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I have many thoughts on having been our particular kind of expat in Germany in the early 00's. Here's an early attempt at recording some of them.

Die lange Reise nach Deutschland

Der Kopf braucht länger als der Körper, - so etwas hätte meine Grossmutter sagen können, während sie für ein Moment lang von ihrem Strickzeug aufblickt.

Im August 2010 war es zehn Jahre her dass meine Familie mit Kind und Kegel, die Koffer gepackt, sich ins neue Leben nach Deutschland aufgemacht hat. Die Siebensachen die wir mitnahmen wurden irgendwann mehr lästig als nützlich, sie werden aber noch heute aufbewahrt - alte Decken, verblasste Kleidungsstücke... Und was hatten wir schon? - Kleidung und Schuhe, Geschirr, Möbel, Regale voll Kinderbücher und Spielzeug, ausserdem einige Musikinstrumente - alles nur von wenig Wert, einiges verkauft, vieles weggegeben. In dieser Bilderbuchsituation in der wir unser gesamtes Hausrat gegen fünf Tickets nach Europa getauscht hatten, in der sich der Buch- oder Filmheld befreit ins neue Leben aufmachen würde, haben wir es nicht geschafft, unserem alten Ich eine porentiefe Reinigung zu verpassen.

Ich denke, viele der 'Migranten' der Generation meiner Eltern hatten weder die Voraussicht, sich vor der Einreise auf den 'Kulturschock' vorzubereiten, noch das Bewusstsein, sich ihm nach der Einreise zu stellen. Wie auch. Es war erst später dass ich Englisch mit Hollywood-Filmen und Internet lernte; dass ich mir bei jeder von meinen Auslandsreisen bewusst war wie unterschiedlich die Logik sein kann die Kulturen zugrundeliegt. In Russland dagegen hatten wir ausser Lehrbüchern nur wenige Bücher auf Deutsch, geschweige denn Filme; sind nie Ausländern begegnet. Und so kam uns alles in Deutschland auf eine subversive, undefinierbare Weise anders vor, so undefinierbar, dass wir dachten es wird alles genauso gut laufen wenn wir diese Differenzen einfach ausser Acht lassen, nicht darauf eingehen. Die Folge - Frustration, wenn es schien, als würden sich uns bei jeder Kommunikation Steine in den Weg legen; Verdrossenheit, dass vieles fremd blieb obwohl wir uns doch so bemühten. Mitnichten: wir haben uns an der falschen Stelle bemüht.

Kein Unterricht, keine gut gemeinten Ratschläge können die direkte Berührung mit dem Unbekannten ersetzen (und sei es nur in Form eines Blockbusters in der Originalsprache, wo man ganz nebenbei erfährt wie die regionale Variante von Smalltalk funktioniert - für den Fall, dass man sich plötzlich auf einem Kindergeburtstag neben anderen Eltern wiederfindet). So sind wir Menschen nun mal - wenn es um tief verwurzelte Gewohnheiten geht, sind die meisten von uns schneller durch Emotionen und Erfahrungen als durch logische Einwände überredet. Ich kann sehen, warum wir so etwas wie ein Einbürgerungstest brauchen können. Aber ich kann auch sehen warum es sich zumindest für einen Teil der davon Betroffenen sinnlos anfühlen wird, eine weitere bürokratische Hürde für die man sinnlos erscheinendes Faktenwissen paukt. Freilich ist dieses Wissen Teil eines fremden Paradigmas, aber wie erklärt man jemanden, der es nicht kennt, dass es verschiedene Paradigmen geben kann? Ich kannte nur das was in der Schule gelernt wurde, auf dem Schulhof, im Haus meiner Eltern.

Dieses festgefahrene Denken gilt für beide Seiten. Ich möchte hier die Bildungschancen eines Migrantenkindes (bereits aus dem Grundschulalter heraus) um den Anfang der 00-er kurz umreissen: zuerst meist ein, seltener mehrere Jahre Hauptschule oder Sonderschule 'zum Deutschlernen' (muss ich erwähnen, dass diejenigen die auf die Sonderschule geschickt wurden nur schleppend mit ihrem Deutsch vorankamen?); danach haben diejenigen, die auch in ihrem Heimatland studiert hätten, den Wechsel aufs Gymnasium versucht. Auch mein Vater hatte mich nach einem Jahr Hauptschule mitgenommen um uns an mehreren Gymnasien vorzustellen. Wir gaben kein überzeugendes Bild ab, mein Vater konnte nur um einiges besser Deutsch als ich; dachten aber, ein sehr gutes russisches Schulzeugnis und weitgehend gute Hauptschulnoten würden für uns sprechen. Leider nicht: die Schuldirektoren sahen in mir einen potentiellen Problemfall; von den vielen Gymnasien in denen wir waren hat man sich nur in einem einzigen getraut, mich zu nehmen.

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich eine alte Sporttasche von Handgepäckgröße und meinen Kopf voller Träume. In der Sporttasche ein Radio, einige Kleidungsstücke, ein Stofftier und meine Barbiepuppe (zu wertvoll, um sie zurückzulassen), Glasperlen aus denen ich Freundschaftsbändchen machte, und zwei Dutzend Kassetten mit Jazz- und Rockmusik. Seitdem hat sich äusserlich wenig verändert. Ich bin eine routinierte Kofferpackerin: gerade so viel Kleidung damit man immer gut angezogen ist, Universalabspielgerät Laptop, Kamera, ein kreatives Handarbeitsprojekt, ein Minimum an Kosmetik, Gitarre, und ein Buch, mehr nehme ich auch auf eine längere Reise nicht mit. Nur die Träume haben sich verändert. Was der Roman- oder Filmheld innerhalb von Sekunden schafft, dafür brauchen wir reale Menschen eben ein ganzes Jahrzehnt.